Am 9. Dezember veröffentlichte Qu Qingshan, derzeit Präsident des Instituts für Parteigeschichte und -literatur und Mitglied des ZK der KPCh, einen historischen Aufsatz mit dem Titel „Die Reform- und Öffnungspolitik ist ein großes Erwachen der Partei“ in der Renmin ribao, einem der wichtigsten Sprachrohre der Kommunistischen Partei Chinas. Darin interpretierte er die Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping auf unstrittige Weise, aber doch mit interessanten Schwerpunkten und vor allem ohne den Namen Xi Jinpings auch nur einmal zu erwähnen. Vor dem Hintergrund, dass Xi Jinping 2018 zum 40. Jahrestag eben dieser Reform- und Öffnungspolitik eine recht lange Gedenkrede hielt und auch dass vor kurzem die dritte Resolution zur Geschichte der KPCh veröffentlicht wurde, deren Darstellung ganz andere Schwerpunkte setzt, stellt sich die Frage: Was bedeutet eigentlich Qu Qingshans Aufsatz?

Wang Dan, ein bekannter Aktivist der chinesischen Demokratiebewegung und heute vehementer Chinakritiker im U.S.-amerikanischen Exil, schrieb auf Facebook dazu, als einen von vier Punkten: „Die Renmin ribao publizierte einen Artikel über die Reform- und Öffnungspolitik. Er nennt Deng Xiaoping achtmal, er nennt auch Jiang Zemin und Hu Jintao, aber erwähnt mit keinem Wort Xi Jinping … Natürlich könnte dies alles zufällig sein, und nach ein paar Tagen könnte Xi Jinpings Gesicht wieder auf der ersten Seite der offiziellen Medien stehen. Aber eines ist sehr klar: die politische Atmosphäre im China der letzten Tage ist ein bisschen seltsam.“ Ebenfalls auf Facebook äußerte sich der Journalist aus Hong Kong Ngan Shun-kau. Er spekulierte, was dieser Artikel wohl bedeute, und kam zu dem Schluss, dass es zwar berechtigte Kritik an Xi Jinping und seiner Politik gäbe, dass diese auch geäußert würde, wie in dem Artikel von Qu Qingshan, aber dass Xi Jinping wohl an der Macht bliebe, weil er sich auf mächtige Unterstützung aus der Partei verlassen könne. Zudem entging dieser Artikel anderen chinesischsprachigen Medienformaten nicht. Die chinesische Version des Radio France Internationale (RFI) titelte zum Beispiel „Deng Xiaoping hoch gelobt, Xi Jinping nicht erwähnt: Ein Artikel der Renmin ribao wirft Fragen auf.“ Radio Free Asia (RFA) widmete dieser Nachricht ebenfalls Aufmerksamkeit und sie schaffte es auch in die Medien Taiwans. 

Also, was bedeutet Qu Qingshans Aufsatz eigentlich? Verfolgt Qu eine geheime Agenda und wenn ja, wie sieht sie aus? Deutet sich mit seinem Artikel ein Wandel im öffentlichen Diskurs an? Oder kündigt sich damit ein Machtverlust von Xi Jinping an? Im gegenwärtigen öffentlichen Klima Chinas sind Fragen dieser Art letztlich unvermeidlich und schwer bis unmöglich zu beantworten. Eine Annäherung an Antworten ist aber zweifelsohne möglich.

Nun zum ersten und in meinen Augen eher unbedeutenden Punkt: Was bedeutet es, dass Xi Jinping nicht erwähnt wurde? Am 30. November und am 8. Dezember erschienen in der Renmin ribao jeweils Artikel zur Reform- und Öffnungspolitik, die sich im Wesentlichen als Exegese von Xi Jinpings Gedanken dazu lesen und gespickt mit direkten Zitaten von Xi sind. Demgegenüber liest sich Qu Qingshans Artikel, in dem Xi Jinping nicht einmal vorkommt, als ein Affront. Zudem stellte die Renmin ribao eine Woche nach Qu Qingshans Beitrag Videos online, in denen Wang Lingui die Bedeutung der Reform- und Öffnungspolitik ganz im Sinne Xi Jinpings erklärt.

Viel gewichtiger aber scheint mir der Inhalt des Artikels von Qu Qingshan, denn er betont eine pragmatische und an den gegenwärtigen Produktionsbedingungen ausgerichtete Fehlerkultur. Diese sei das wichtigste Erbe der Reform- und Öffnungspolitik. Qu stellt also Offenheit für Kurskorrekturen und die Fähigkeit zum Bruch mit der Vergangenheit in den Vordergrund. Vergleicht man dies mit Xi Jinpings Rede zum vierzigjährigen Gedenken an die Reform- und Öffnungspolitik vom 18. Dezember 2018, die Xi hauptsächlich dazu diente, sein eigenes Programm vorzustellen, so fällt auf, dass die Fehlerkultur darin kaum eine Rolle spielt. Seit 1978 ist China nach Xi eine fast reine Erfolgsgeschichte und vor allem seit 2012 tritt an die Stelle der Fehlerkultur die Säuberung der KPCh. Das Wort Fehler kommt in seiner Rede überhaupt kaum vor, nur im Kontext der Kulturrevolution. Das wichtigste Erbe von Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik ist nach Xi Jinping vielmehr die uneingeschränkte Herrschaft der KPCh, eine Sichtweise, die Qu Qingshans fast diametral gegenübersteht, denn eine Fehlerkultur scheint schlechterdings nur möglich, wenn Fehler auch angesprochen und einigermaßen ehrlich debattiert werden können.

Vor allem sind der Artikel von Qu Qingshan, die weitere Berichterstattung zur Reform- und Öffnungspolitik, Xi Jinpings Reden dazu und die Art und Weise, wie dies von Wang Dan, Ngan Shun-kau, dem RFI oder in Taiwan diskutiert werden, ein Lehrstück für Interpretationen eines unfreien Diskurses. Es ist in China unmöglich seine Meinung frei zu äußern und daher muss man sie verschleiern. Im Wesen des erfolgreichen Verschleierns liegt es nun, dass eben unklar bleibt, und zwar allen Parteien, was eigentlich gemeint ist, aber auch dass man es sich erschließen könnte. Echte Kritik ist somit fast unmöglich und es können sich auch keine Fraktionen innerhalb der KPCh zu bestimmten Inhalten und für die Öffentlichkeit sichtbar bilden. Verlässliche Meinungsumfragen, Wahlen und andere Instrumente, die Zustimmungsverlust oder Machtverlust indizieren, existieren nicht und dementsprechend ist es schwierig, den Verlust von Einfluss oder Macht einzuschätzen. 

Welche Probleme ergeben sich daraus? Erstens ist dies vor allem ein Problem für außenstehende Beobachter*innen und daher ist es angebracht, dieser Uneindeutigkeit Raum zu geben. Zweitens scheint es mir auch so, dass dies für den Großteil des Parteikaders der KPCh ein echtes Problem darstellt. Die unzähligen Propagandapublikationen, die medial weit verbreiteten Reden von Xi Jinping und die öffentlichen Dokumente der Partei dienen sicherlich dazu, die mehr als 95 Millionen Mitglieder der KPCh auf Linie zu bringen, und ich bin mir sicher, dass die Implikationen von Qu Qingshans Artikel für die überwältigende Mehrheit von ihnen, bis auf eine Handvoll, wie für die meisten von uns verschleiert bleiben. Es ist also schwer, dass sich in der KPCh echte Fraktionen bilden. Je unfreier der Diskurs also ist, desto konzentrierter scheint das Monopol auf Meinungsbildung zu sein und desto verhärteter auch der Kurs der KPCh. Es bleibt nur zu hoffen, dass China und die KPCh nicht einen weiteren katastrophalen Schock vom Ausmaß der Kulturrevolution erleiden müssen, sondern dass sie friedlichere Wege finden, um Kurskorrekturen vorzunehmen. Drittens kann ein so unfreier und geschlossener Diskurs eine Blase bilden, die sich gegenüber „rationalen“ Argumenten komplett abschottet. Außenpolitisch und vor allem im Zusammenhang mit Taiwan kann dies schnell zu Konflikten oder, wenigstens nach außen, zu irrational erscheinenden Konfliktverschärfungen führen, da unklar bleibt, wie es zu einer solchen Verschärfung kommen konnte.

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