Die Olympischen Winterspiele fanden 2022 in Peking statt, in einer Region, deren Winter sehr trocken ist und wo es kaum schneit. In der Eröffnungszeremonie umtanzte eine Schar von Tänzerinnen eine digitale Schneeflocke. Sie glitt mal über den Boden und schwebte mal in der Luft. Ingenieurskunst und digitale Lichtshow machten möglich, was zunächst unmöglich erschien. Doch was verbirgt sich hinter diesen Geschehnissen? 

Einen ersten Hinweis mag der Titel der Show geben: „Die Schneeflocke in Yanshan sind so groß wie eine Strohmatte.“ In einem Interview erklärte der Regisseur Zhang Yimou ihn so: „Ich erzähle die Geschichte einer Schneeflocke. Wir kennen zwei Ausdrücke. Im Bereich der westlichen Sprichwörter heißt es, dass sich keine zwei Schneeflocken auf der Welt gleichen. Bei uns heißt es „Die Schneeflocke in Yanshan ist so groß wie eine Strohmatte“. Das ist ein Satz aus einem Gedicht von Li Bai [sic. Li Bo]. Das heißt, die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele manifestiert dieses starke Ideal, nämlich dass alle verschiedenen Schneeflocken der Welt, alle Schneeflocken der Welt heute in Peking zusammenkommen. Wir alle werden zu einer Schneeflocke. Es stellt das Ideal dar, sich stärker zu vereinen [tuanjie].“ Tatsächlich steht die Schneeflocke im Zentrum der Eröffnungszeremonie: Gleich zu Beginn ist sie auf Tüchern zu sehen. Nachdem die Athleten der Länder eingelaufen waren, fallen alle Ländernamen umrahmt von Schneeflocken in die Arena. Sie bilden schließlich eine große Flocke, die bis zum Ende der Zeremonie an prominenter Stelle als Projektion zu sehen ist. Schließlich wird das Feuer von zwei Kindern entzündet, umrahmt von kleinen Schneeflocken mit den Ländernamen der olympischen Nationen in der Mitte, die allesamt zur gleichen Zeit eben jene große Flocke bilden. 

Nun schreiben die Zentralkommission für Disziplinarische Untersuchungen und die Nationale Aufsichtskommission dazu, „[die Eröffnungszeremonie] geht über davon, chinesische Bilder und Symbole zu formen, dazu die Textur und den Inhalt der chinesischen Kultur und seiner Kernelemente auszudrücken.“ In Zhang Yimous Schneeflocke kondensiert sich also nicht nur die Essenz der chinesischen Kultur. Die Eröffnungszeremonie erzählt auch eine Geschichte, wie sich alle Länder auf kommunistisch-chinesische Weise friedlich vereinen (tuanjie). Diese Spiele waren und sind aber aus vielen Gründen sehr umstritten, und auch die bei der Eröffnungsfeier anwesenden Staatsoberhäupter, wie zum Beispiel Putin, Tokajew oder Berdimuhamedow, sind nicht unbedingt Vorbilder für friedliches Zusammenleben.

Nun beschleicht mich der Verdacht, dass sich die eigentliche Bedeutung nicht in dem oberflächlich manifesten Geschehen erschöpft, in dem Schein und Sein so stark kollidieren. Tatsächlich geben die in der Schneeflocke verdichteten Wünsche und Ängste unfreiwillig Aufschluss über die seelischen Widersprüche vieler im Land. Ich möchte zunächst erneut auf die Wahl des Titels verweisen. Wie Zhang Yimou richtig bemerkt, stammt er aus einem Gedicht von Li Bo. Li Bo beschreibt darin einen von der Sonne verlassenen Norden, wo der Ehemann einer nun verwitweten Frau sein Leben auf dem Schlachtfeld gelassen hat und dessen Leichnam dort unbeerdigt liegen blieb. Das Gedicht schildert die Trauer dieser Frau um ihren Mann, der nun nur von Schnee bedeckt ist, wie von einer Strohmatte. Strohmatten waren nicht nur Teil gewöhnlicher Begräbniszeremonien im vormodernen China, sondern sie wurden auch benutzt, um Kriegstote rudimentär zu bedecken, falls keine Zeit blieb sie ordentlich zu begraben. 

Was also lässt sich auf dieser Grundlage über die Schneeflocke als Begräbnismatte und das in ihr verdichtete Unterbewusste aussagen? Es ist persönlich und politisch. Es ist persönlich, weil darin die unmögliche oder unerfüllte Trauer zum Vorschein kommt, die viele Bürger*innen, Angehörige und Opfer in China prägt, ein Land mit einer langen und blutigen Geschichte. Es ist politisch, weil unter dem Schnee die vergessenen Konflikte und das verdrängte Leid vom chinesischen Bürgerkrieg bis zum heutigen Tage an die Oberfläche drängen. Das aktive Vergessen-machen der Geschichte seitens der KPCh und ihrer Anhänger*innen erfolgt also scheinbar nur teilweise wider besseren Wissens und lässt die Trümmer der chinesischen Geschichte unter der KPCh unfreiwillig durchscheinen wie durch eine schmelzende Schneedecke.

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