Der Granatapfel als euphemistische Metapher für den Zusammenhalt verschiedener ethnischer Gruppen erregte zuerst 2019 weltweite Aufregung. Im Juni 2019 pries der Vizegouverneur von Xinjiang Aierken Tuniayzi den Zusammenhalt in der Region mit dieser Metapher: Die Menschen stünden so eng zusammen wie die Samen des Granatapfels. Im Zusammenhang der Xinjiang Papers wies dann die New York Times auf die Verbreitung dieser Granatapfel-Propaganda in Xinjiang hin. Diese Metapher erfreut sich nun scheinbar einer solchen Beliebtheit, dass sie in dem white paper „Chinas Demokratie“ fast wortgleich zu Propagandaplakaten aus Xinjiang wieder auftaucht: „Die 56 Natinonalitäten sind wie ein Granatapfel, sie halten ganz fest zusammen“. Das Granatapfelmodel des gesellschaftlichen Zusammenhaltes schafft es also hiermit auf die nationale Bühne. Ob es der Partei gelegen kam, dass der Granatapfel sowohl innen als auch außen rot ist oder dass alle seine Samen rot sind, sei dahingestellt. Schlagwörter fortschrittlicher Demokratien sind allerdings „Vielfalt“ und „bunt“ und vor diesem Hintergrund ist sicherlich eine Demokratie der Blumenwiese der der Granatapfelmonokultur vorzuziehen.

Inhaltlich überrascht das white paper „Chinas Demokratie“ kaum. Rechte von Minderheiten werden denen der Mehrheit untergeordnet und die des Einzelnen der Nation. Die Partei behauptet in vielen Kernpassagen, dass „demokratische“ Prozesse nur unter ihre Führung und Leitung der KPCh stattfinden können, wie zum Beispiel „Die Führung der KPCh ist die Gewährleistung dafür, dass sich in China die whole-process Demokratie (quanguocheng minzhu) entwickelt“. An anderen Stellen betont das white paper, dass die Partei durch den Großen Volkskongress regiert, dass alle anderen Parteien in China der Führung der KPCh unterstehen oder dass die Regionalregierungen der Nationaler Minderheiten ebenfalls der Partei untergeordnet sind. Schließlich legen widersprüchlich anmutende Phrasen wie „ein Staatssystem der volksdemokratischen Diktatur“ (renmin minzhu zhuanzheng de guoti) recht unverblümt nahe, wie es um das Demokratieverständnis der KPCh gestellt ist.

Was allerdings überrascht, ist, dass die KPCh überhaupt ein solches white paper verbreiten ließ. Ende November und Anfang Dezember beobachtete die KPCh mit Sorge, dass die USA unter Joe Biden das diplomatische Netz um China enger spannte. Zu diesen Initiativen gehört sicherlich auch das von der U.S.-Regierung organisierte virtuelle Demokratiegipfeltreffen (Democracy Summit) vom 9-10 Dezember. Das white paper „China’s Demokratie“ reiht sich hier in eine Kaskade von Zeitungsartikeln, Konferenzen, Fernsehberichten und Hintergrundanalysen ein, die allesamt die Demokratie in den USA kritisieren. Sicherlich laden die Krisen der amerikanischen Demokratie zu einer solchen Kritik ein und womöglich sieht Peking nun die Zeit gekommen einen Gegenvorschlag vorzulegen. Dass es sich dabei aber um gar keine Demokratie handelt oder dass weltweit noch ganz andere Demokratie existieren als in den USA und diese mal besser und mal schlechter funktionieren, stört die KPCh nicht weiter. Es bleibt nicht auszuschließen, dass die KPCh ihren Charme in einem leichten Anflug von Größenwahn überschätzt und tatsächlich davon ausgeht, dies sei ein attraktiver Vorschlag für die Weltgemeinschaft.

Innenpolitisch sieht diese Initiative ganz anders aus. Zahlreiche Zeitungsartikel schildern die Probleme der amerikanischen Demokratie und stellen jegliche Form von Kritik an China als Imperialismus dar. Hier verfolgt Peking wohl eine ähnliche Strategie wie der Kremel: Die Kritik am Gegner legitimiert das eigene System. In dieser Atmosphäre muss der eigene Vorschlag darüber, was Demokratie sei, nicht unmittelbar aus sich heraus überzeugen. Vor allem in einem Punkt konvergieren white paper und Schmierkampagnen gegen ausländische Demokratien, nämlich dass Resultate und Praxis mehr zählen als Institutionen. Zum Beispiel, die KPCh regiert das Land doch nach eigener Aussage im Einklang mit den Gesetzen (yifa zhiguo), wozu braucht es dann noch eine unabhängige Judikative, wenn sie wie in den USA politisiert ist? Es reicht, dass sich die KPCh, nach eigener Aussage, an das Gesetz hält. Oder, die KPCh gewährleistet angeblich Gleichberechtigung und Wohlstand, während der Bill of Rights in den USA nur leeres Gerede sei. Aufgrund der sich immer weiter zuspitzenden Probleme der amerikanischen Demokratie und der durchgehend negativen Berichterstattung in den chinesischen Medien, mag diese Gesamtdarstellung durchaus bei dem einen oder der anderen verfangen. 

Darüber hinaus stellt das white paper „Chinas Demokratie“ auch einen rhetorischen Bruch dar, denn bisher galt Demokratie stets als überwundenes Staatsmodel der Nanjing Dekade (1927-1937), auf das der „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“ folgte. Ob diese rhetorische Volte auf die von einer solchen Propaganda ermüdete Jugend reagiert und alten Wein in neuen Schläuchen feilbietet, bleibt eine offene Frage. Es scheint jedenfalls so, dass die Kritik an Chinas krassen Demokratiedefiziten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im eigenen Land gehört wird, und dass die KPCh dabei ist, sich einen demokratischen Anstrich zu geben.

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