Am 12. Dezember hat sich Lou Jiwei, ein Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz, zu den frischen Zahlen des Büros für Statistik geäußert. Kurz zuvor hatte die Zentrale Arbeitskonferenz zur Wirtschaft festgestellt, was in den folgenden Monaten zum Mantra werden sollte. Chinas Wirtschaft sehe sich drei Risiken gegenüber: „schrumpfen der Nachfrage, Lieferschock, geschwächte Erwartungen“ 需求收缩、供给冲击、预期转弱. Nur, so Lou Jiwei auf die Zahlen des Büros für Statistik zurückkommend, sähe man dies nicht in den Zahlen zur Wirtschaft und irgendetwas könne nicht stimmen. Lou war sich sicher, dass die Zahlen nicht stimmen könnten. 

Die Zahlen zur Wirtschaft und besonders zum Wirtschaftswachstum sind stets hoch. Sie sind die Offenbarung für die KPCh. Sie verschaffen ihr Legitimität und in ihnen zeigt sich stets, dass die Partei ihre gesetzten Ziel erreicht. Andere Zahlen, vor allem zu negativen Ereignissen, sind meist niedrig. Die Zahl der Toten nach dem Starkregen in Zhengzhou sind ein Beispiel dafür, aber auch die Zahl der Corona-Erkrankten in Wuhan und die Zahl der an Corona-Verstorbenen sind auf wundersame Weise besonders niedrig. Vor allem das Verhältnis von der Übersterblichkeit zu den Corona-Toten ist in Wuhan sehr niedrig und es wirft Fragen auf. 

Problematische Zahlen, Zensur, Kontrolle der Medien und ein weit verbreiteter Widerwille ehrliche Zahlen und Fakten bereitzustellen, schüren Zweifel. Eine gehörige Portion Misstrauen ist für Nachrichten von staatlicher Seite also angebracht. Da es aber weder gut ist, alle offiziellen Berichte über Bord zu werfen, noch überall Verschwörungen zu sehen, stelle ich hier an drei Beispielen vor, dass Umwege über indirekte Interpretation zwar keine Gewissheit bringen, aber den Zweifel am offiziellen Narrativ am Leben erhalten und ein Möglichkeitsspektrum von dem offen halten, was geschehen sein könnte. Mir scheint das die beste Annäherung zu sein, die in den gegenwärtigen Umständen machbar ist.

I. Das Ausmaß der Überwachung 

Ende Dezember veranstaltete die Stadt Tieling ein Fest für seine Rasteraufseher*innen 网格员. Die Stadt berichtete zum Anlass dieser Feier, dass nun fast 20.000 Personen als Rasteraufseher*innen tätig seien, mit dem Motto: „Alle machen mit, für Frieden und Sicherheit bin ich da.“ Tieling prahlte, die Stadt hätte sich die Kraft der Gesellschaft zu Nutzen gemacht und sie hätte alle persönlichen und materiellen Widerstände überwunden. 

Rastermanagement begann in 2004, mit einem Pilotprojekt im Stadtteil Dongcheng von Beijing. Dongcheng wurde in 589 Rasterzellen eingeteilt und Nachbarschaftskommittees organisierten 120.000 Freiwillige, um eine Bevölkerung von 622.000 zu überwachen. Unterstützt wurde diese Rasterüberwachung durch das sogenannte Programm 863, was sich 2005 zu CNGrid (China National Grid Project) entwickelte. Beamte in Dongcheng waren von dem Erfolg ihres Projektes überzeugt und sie überzeugten bald das ganze Land. Jia Qinglin, damals Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros des Zentralkomitees der KPCh, und der damalige Bürgermeister von Beijing Wang Qishan unterstützten das Projekt. Es wurden gleich im Anschluss weitere 51 Pilotprojekte der Rasterüberwachung in China gestartet, unter anderem in Shenzhen, Shanghai, Wuhan oder Nanjing. 2010 und 2011 wurde diese Überwachung vor allem in Xinjiang eingesetzt. Seit 2015 ist sie landesweit implementiert.

Rasteraufseher*innen sind Freiwillige, die mit 300 bis 500 RMB (Stand 2015, circa 45-75 €) für ihre Dienste entlohnt werden. In manchen Städten tragen sie eine Armbinde oder sind anderweitig gekennzeichnet, in anderen Städten sind sie weder markiert noch sind ihre Namen bekannt. Für die jeweiligen Verwaltungen scheinen Stabilität und die Sorge um Sicherheit alle anderen Überlegungen in den Schatten zu stellen. Aber ein solches System der Rasterüberwachung birgt eben jene Risiken, die von Überwachungsstaaten bekannt sind, wie zum Beispiel den Machtmissbrauch seitens der Überwacher*innen in sozialen Konflikten oder den generellen Zusammenbruch des Zusammenhalts in einem Gemeinwesen, in dem sich potentiell jeder und jede gegenseitig ausforscht.

Kommen wir zurück zu Tieling. Die Stadt gab mit dieser Festlichkeit an und, wie es auch der nächste Beitrag verdeutlicht, scheint Angeben oft die Aufmerksamkeit so zu binden, dass nebensächlich erscheinende Informationen preisgegeben werden, hier die Zahl der Rasteraufseher*innen. Nun hat die Stadt Tieling nach dem Zensus von 2020 fast 2,4 Mio Einwohner*innen und damit ist das Verhältnis von Rasteraufseher*innen zu Einwohner*innen 1:120, ein immer noch sehr hohes aber deutlich realistischeres Verhältnis als in Dongcheng, wo es nach Angaben der Behörden 1:5 hätte sein müssen. Nun beträgt das Pro-Kopf-Einkommen in Tieling 27.800 RMB pro Jahr und da stellen die Einnahmen von 3.500-6.000 RMB für die Tätigkeit als Rasteraufseher*in sicherlich einen großen Anreiz dar. Der Gesamtaufwand von 70-120 Mio RMB pro Jahr stellt für eine Stadt wie Tieling mit einer gesamten Wirtschaftskraft von 66,3 Mrd RMB pro Jahr sicherlich eine nicht zu unterschätzende Last dar. 

II. Trügerische Tendenzen

Am 28. Februar veröffentlichte das Büro für Statistik den Jahresbericht über die Wirtschaftsentwicklung in China 2021 (中华人民共和国2021年国民经济和社会发展统计公报). Wenig überraschend ist, dass alle Zahlen nach oben gehen, vor allem der Konsum stieg angeblich um 12,5 %, während die Zentrale Arbeitskonferenz zur Wirtschaft noch vor einem Rückgang oder einer Abschwächung warnte. Das ist wohl einer der Widersprüche, den Lou Jiwei im Auge hatte. Nun interessieren an dieser Stelle vor allem die Zahlen zum Immobiliensektor. Dazu heißt es: „Im ganzen Jahr betrug der Mehrwert des Baugewerbes insgesamt 8 Billionen RMB, 2,% mehr als im Vorjahr. Der Gewinn der Bauunternehmen unter allgemeinen oder speziellen Verträgen, die die Qualifikationskriterien erfüllen, betrug 855,4 Mrd RMB, 1,3 % mehr als im Vorjahr, darunter waren Holdinggesellschaften im Wert von 362 Mrd RMB, ein Zuwachs von 8 %.“

Nun lassen die Entwicklungen um Evergrande und andere chinesische Immobilienfirmen in der Krise Zweifel aufkommen, ob es wirklich so gut um die Bauprojekte in China bestellt ist. Tatsächlich werden die Klagen von eben jenen Firmen lauter, dass die Nachfrage besonders in diesem Sektor zurückgeht. Einen Einblick liefert die Pressekonferenz von Liu Zhiyuan, Direktor des Umweltministeriums, auf der er die neuen Zahlen vorstellte. Dort ließ er den bemerkenswerten Satz fallen: „Der Bericht über die für eine Umweltbewertung vorgelegten Bauprojekte für Januar bis November zeigt, dass deren Zahl im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 40 % gesunken ist.“ Es waren 105.300 Projekte. Nun erfordert Artikel 8 des Gesetzes zur Einschätzung der Folgen für die Umwelt, dass alle Bauprojekte eine solche Umweltbewertung durchlaufen. Da es unwahrscheinlich ist, dass die Umweltbehörde von dem einen aufs andere Jahr einen massiven Effizienzeinbruch erlebt hat, liegt es nahe, dass die Kurve des Immobilienmarkts doch nicht nach oben zeigt und vor allem dass die Erwartungen für die zukünftige Entwicklung düster sind, als das Büro für Statistik der Leser*in glauben machen möchte.

III. Falsche Zahlen und Gerüchte

Im Januar 2022 wurde der offizielle Bericht zur Überschwemmungskatastrophe in Zhengzhou veröffentlicht, bei der, nach Angaben des Berichts, 380 Personen in Zhengzhou verstorben oder vermisst sind. Mit Umland sind es 398. Extremer Starkregen, schlechte Warnsysteme und eine anfällige Infrastruktur haben zu massiven Zerstörungen, dem Verlust von Leben und der Evakuierung von mehr als 200.000 Menschen geführt. 

Doch Expert*innen zweifeln an dem Bericht. Wang Weiluo, ein in Deutschland lebender Raumplaner, kritisiert, dass die chinesischen Behörden alles auf die Natur schieben würden und keine Verantwortung übernähmen. Er merkt auch an, dass von Beginn an Zweifel an den Todeszahlen kursierten, genährt durch Bilder von Toten oder von abgelegten Blumensträußen und einer hohen Anzahl von Autos, deren Besitzer*innen sich niemals wieder gemeldet hatten. Vor allem kritisiert Wang den Mangel an freier Berichterstattung und die Tatsache, dass die chinesischen Behörden keine Namenslisten der Verstorbenen veröffentlichen. So ist es der breiteren Öffentlichkeit unmöglich, das gesamte Ausmaß tatsächlich nachzuvollziehen.

Einige Monate nach der Überschwemmung wurden in Zhengzhou 400.000 „Schwemmautos“ 泡水车 verkauft. Für die meisten davon zahlte die Versicherung kompletten Schadensersatz. Daneben gab es aber auch noch ca. 4.000 Autos, die in Jingdong suidao geparkt wurden, aber für die sich keine Besitzer*innen fanden. Nun gibt es sicherlich eine Vielzahl an Gründen, warum sich Autobesitzer*innen nicht melden und ihre Autos abholen. Aber so reich ist die chinesische Gesellschaft auch nicht, dass sich einzelne Haushalte einen verschwenderischen Umgang mit Autos erlauben können. Auch besaßen sicherlich nicht alle Opfer ein Auto. Die tatsächliche Zahl der Überschwemmungstoten könnte deutlich unter 4.000 liegen oder darüber, aber sicherlich ist 380 zu konservativ.

Die Medienfreiheit war während der Flut besonders eingeschränkt und offensichtliche Mängel im offiziellen Bericht schüren solche Zweifel. Ich kenne die tatsächliche Todeszahl nicht und möchte auch nicht darüber spekulieren, aber ein interpretatorischer Umweg über die stehengelassenen Autos eröffnet wenigstens ein Möglichkeitsspektrum, das solange offen bleibt, bis überzeugende Zahlen vorliegen.

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