Epidemien brachten seit je her wilde Spekulationen, Gerüchte und Verschwörungserzählungen ans Licht, oft mit verheerenden Folgen. Die bekannteste und wohl folgenreichste war, dass die jüdische Bevölkerung im Europa des Mittelalters auf Geheiß „des Sultans“, wohl Osman I oder Orhan I, das Brunnenwasser vergiftet hätte. Dies führte zu Pogromen in den späten 1340er und frühen 1350er Jahren, den schlimmsten vor dem 20. Jahrhundert. 

Wie Covid-19 hier in Deutschland wahrgenommen wird und welche Spekulationen und unbestätigte Nachrichten zirkulieren und welche Konsequenzen die Lockdowns haben und hatten, ist hinlänglich bekannt. Im Folgenden möchte ich auf die Besonderheiten solcher Nachrichten und Lockdowns in China hinweisen, die im Wesentlichen durch eine mit allen Mitteln durchgesetzte Zero-Covid-Strategie geformt werden. Früh in der Pandemie, während des Ausbruchs in Wuhan, hat Fang Fang schon einige solcher Nachrichten dokumentiert, wie zum Beispiel, dass ein gehirngeschädigtes Kind verhungert sei, weil es durch den Lockdown unversorgt blieb, oder dass einer von Fang Fangs Bekannten nicht ins Krankenhaus eingelassen wurde und deswegen starb. 

Nun denke ich, zum einen, dass wir unsere Situation in diesen Nachrichten sicherlich teilweise wiedererkennen können. Zum anderen scheint mir die Zero-Covid-Strategie in China vor allem zwei Konsequenzen zu haben, die uns, wenigstens in ihrem extremen Charakter, unbekannt sind. Das sind: Erstens die oft frenetische Suche nach Ursprüngen der Pandemie, die oft ins Ausland projiziert werden; zweitens der Verlust des common sense, an dessen Stelle sich ein oft kaltherziger Regelgehorsam breit macht, seitens der Behörden aber auch ganz normaler Personen. Das heißt, durch die Zero-Covid-Strategie haben sich zwei für den Anfang der Pandemie charakteristische Dynamiken umgekehrt. Die durch Angst vor der Pandemie bedingte Akzeptanz von harschen Regeln hat sich in eine Furcht vor den Lockdown-Maßnahmen verwandelt, und die anfängliche Solidarität ist in Teilen erschüttert.

1. Die Angst vor Corona

Einleitung. Gleich zu Beginn des Ausbruchs in Wuhan hat sich bei den Menschen Angst vor der Pandemie verbreitet. Nun konzentriert sich die Angst vor Pandemieausbrüchen besonders in Behördenkreisen, während die Menschen eher Furcht vor dem Lockdown und behördlichen Maßnahmen zu haben scheinen. Die Zero-Covid-Strategie hat womöglich zu dieser Verschiebung geführt.

Indirekte Kontrolle

Vor den Olympischen Winterspielen war man in Peking nervös. Am 15. Januar wurde ein Coronafall gemeldet und die Stadt ergriff tiefgreifende Maßnahmen, um eine Verbreitung des Virus auszuschließen und einzudämmen. Aber der nötige Enthusiasmus der Stadtbewohner*innen zum Coronatest zu gehen und eine lange Quarantäne zu riskieren ließ zu wünschen übrig. Daher ging die Stadt einen Umweg über vier in der Apotheke käufliche Medikamente: fiebersenkende Mittel, Mittel gegen Husten oder Halsschmerzen, Medikamente gegen Infektionen und Schmerzmittel. Von nun an muss beim Kauf solcher Mittel in der Apotheke in QR-Code gescannt werden, den die Apotheke dann mit einer Datenbank abgleicht, und die Käufer*in wird aufgefordert sich innerhalb von 72 Stunden zweimal testen zu lassen. Tut sie das nicht, schaltet ihre Gesundheitsapp automatisch auf gelb, das bedeutet eine Quarantäne zu Hause von 7-14 Tagen. 

Coronaversicherungen

Versicherungen in China schützen lieber vor Quarantäne als vor Corona. In China ist eine neue Versicherungspolice auf dem Markt: Die „Corona Quarantäne Versicherung“. Sie wird beworben mit „Es braucht nur 9,90 yuan, für jeden Tag in Quarantäne gibt es 150 yuan“ oder „jeder Tag in Quarantäne bringt 1000, leg dich hin und verdiene 1000 yuan.“ Allerdings empfiehlt es sich, das Kleingedruckte zu lesen, denn die meisten Kommentator*innen sind der Meinung, es handele sich um eine Geldfalle. 

2. Gerüchte

Einleitung. Die Zero-Covid-Strategie geht mit einer strengen Kontrolle des Lebens und der Nachrichten einher und besonders letzteres lädt dazu ein, Gerüchte und unbestätigte Nachrichten zu verbreiten. In Krisensituationen zirkulieren oft unbestätigte Nachrichten und sie fallen besonders dann auf fruchtbaren Boden, wenn es unwahrscheinlich erscheint, dass sie von offizieller Stelle bestätigt werden. In China nahmen sie seit Beginn der Pandemie eine wichtige Stellung ein – Fang Fangs Wuhan Diary ist ein lebendiges Zeugnis dafür – und in ihnen spiegeln sich Angst vor und Misstrauen gegenüber dem Staatsapparat. Da heizt die gebetsmühlenartig wiederholte Ermahnung seitens der Autorität, Gerüchte (yaoyan 谣言) weder Glauben zu schenken noch zu verbreiten, die Lage eher noch an. Unabhängig davon, ob die folgenden Geschichten stimmen oder nicht, spiegelt sich in ihnen mehr die Angst vor dem Lockdown als vor Corona.

Unterkunft im Auto

Im Januar verbreitete sich die unbestätigte Nachricht über eine Frau in Xi’an. Ihr Bruder berichtete, dass diese 29jährige Frau am 31. Dezember plötzlich entlassen wurde, dann mit dem Auto nach Hause in den Stadtteil Xi’ans Lianhuqu fahren wollte, aber wegen der Lockdownmaßnahmen nicht eingelassen wurde. Sie wurde dazu gezwungen 16 Tage im Auto zu wohnen, wo sie wahrscheinlich erfror (die Temperatur fiel in Xi’an nachts auf bis zum -4 °C).

Alte Menschen in Gefahr

Im Internet wurde die Nachricht mit passendem Bild verbreitet, die Stand heute wohl widerlegt ist, dass der emeritierte Professor Li Zhentong im Treppenhaus stürzte, dass der Krankenwagen von den Coronakontrollpunkten aufgehalten wurde und dass er daraufhin seinen Verletzungen erlag. Tatsächlich ist auf dem geposteten Bild wohl ein anderer alter Mann zu sehen und Li Zhentong ist zuvor eines natürlichen Todes gestorben. Nun sind die Behörden intensiv damit beschäftigt über alle Kanäle dieses Gerücht zu widerlegen.

3. Die Suche nach einem Ursprung

Einleitung. Ein besonders ausgeprägtes Phänomen im China unter Zero-Covid ist die Suche nach möglichen Pandemieursprüngen. Einen Ursprung zu finden, verdrängt die Notwendigkeit sich der Tatsache zu stellen, dass Covid-19 möglicherweise schon diffus verbreitet ist, wenn auch in kleinem Ausmaß. Auch dient die Projektion von Pandemieursprüngen ins Ausland dazu, den Eindruck zu erwecken, das Inland sei Covid-frei und dass alle Ansteckung aus dem Ausland komme.

Gefahr aus Kanada

Am 15. Januar 2022 wurde seit langer Zeit wieder ein Coronafall aus Beijing gemeldet. Eine Frau wurde positive getestet, und da die Olympischen Winterspiele vor der Tür standen, setzte die Stadt Beijing alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, um diesem Fall auf den Grund zu gehen. Zunächst wurde eine Pressekonferenz unter der Führung von Pang Xinghuo, die stellvertretenden Leiterin des Pandemiepräventionszentrums von Beijing, abgehalten. Dort wurde nicht nur von dem Fall berichtet, sondern die ganzen Tagesabläufe der positiv getesteten Frau seit dem 01. Januar öffentlich gemacht. Nachforschungen zum Tagesablauf der Erkrankten und dessenVeröffentlichung ergaben, dass wegen dieses einen Falles über 16.000 Personen auf Corona getestet wurden. Keine davon war positiv. Darüber hinaus machte Pang Xinghuo das Ergebnis über den Ursprung der Coronainfektion bekannt: Die Frau habe sich durch einen Brief aus Kanada angesteckt, der am 07. Januar aus Kanada versendet wurde und am 11. Januar in Peking ankam. Daraufhin wurden 54 weitere Briefe aus Kanada beschlagnahmt.

Ordnungsgemäße Gesundheit

In Yuzhou, eine Stadt in Henan mit knapp über einer Millionen Einwohner*innen, wurden am 22. Januar die Knoblauchpflanzen auf Corona getestet. Angeblich forderten die Gemüsegroßhändler, dass ihre Ware coronafrei sein solle, und daraufhin entsandte die Lokalregierung ganz in weiß gehülltes Personal, das dann Proben von den Knoblauchpflanzen nahm. In dem zu Yuzhou gehörenden Huolongzhen sollen, weil die Bauern auf dieses Testpersonal warten mussten, schon mehr als hundert Tonnen Knoblauchpflanzen ungenießbar geworden sein. Am Ende kann sich der Knoblauch, der auf den Markt kommt, einer „ordnungsgemäßen Gesundheit“ erfreuen.

Die Infektionskette ist klar

Am 28. Januar war in Hangzhou, eine Stadt von mehr als zehn Millionen Einwohner*innen, die Angst vor Corona groß. Seit zwei Tagen wurden die ersten und nun immer mehr Fälle gemeldet. Am Mittwoch war es ein Fall, am Donnerstag waren es insgesamt acht und nun, am Freitag, waren es insgesamt 22. Während draußen vor der Tür die Autos mit Desinfektionsmittel besprüht wurden, war es Zeit für eine Pressekonferenz, um den Ursprung dieses lokalen Ausbruchs zu klären. Der erste Fall wurde aus dem chinesischen Betrieb Hui’erte gemeldet, aber eine Analyse ergab, dass sich der dort angestellte Arbeiter, der erste Fall, an Kaffeemaschinenteilen, die aus dem Ausland importiert wurden, infiziert habe. Die chinesischen Medien urteilten: „die Infektionskette ist klar.“

4. Der Verlust des Common Sense

Einleitung. Besonders auffällig ist, dass im China unter Zero-Covid die Solidarität oder das Mitgefühl ein wenig verloren gehen. Hier meine ich nicht die Solidarität zwischen Bürger*innen, sondern die zwischen Staatsangestellten und Bürger*innen. Oft scheint es so, dass Staatsangestellte, zum Beispiel einfach Kontrolleur*innen an Eingängen zu Wohnanlagen oder bei Kontrollen, eine Entscheidung gegen die Bürger*innen treffen, anstatt mal über eine Regel hinwegzusehen oder eine Vorschrift Vorschrift sein zu lassen. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber die Nervosität mit der die Zentral- und Lokalregierungen an Zero-Covid festhalten, schafft sicherlich ein Umfeld, in dem es sehr schwierig ist das Richtige zu tun, auch wenn es nicht das Vorgeschriebene ist. 

Alle Ampeln auf Rot

Ende Dezember setzte der 3,5 Regierungsbezirk Baeksaek Stadt 百色市, die hauptsächlich von der Zhuang-Minderheit bewohnt wird, auf Abschreckung: Schlepper, in weiße Schutzanzüge gehüllt, die sich nicht an die Coronaregelungen hielten und die Menschen über die Grenze nach Guangxi brachten, wurden in Cingsae Stadt 靖西市 im Kulturrevolutionsstil durch die Straßen paradiert. Sie trugen Schilder um den Hals mit ihrem Namen und der Anklagepunkte, während sie auf beiden Seiten neben ihnen von zwei weiteren Schutzanzügen geführt wurden. Diese Parade konnte den Virus allerdings nur für einen Monat abschrecken, denn am 04. Februar 2022 kam es erneut zu einem Coronafall in Dwzbauj Yen 德保县 und am 06. waren es schon 43 Fälle, 37 davon in Dwzbauj Yen. Nun schritt die Bezirksregierung zur Tat und ließ verkünden: ab dem 07. um 0 Uhr trete der Lockdown ein. Unter anderem gelte: Schulen und alle Geschäfte außer Supermärkte, Apotheken und Krankenhäuser schlössen. Der Nahverkehr werde eingestellt. Außer für Einkäufe und den Gang zum Coronatest müssten alle Bürger*innen zu Hause bleiben. Schließlich werden die Bürger*innen dazu aufgefordert, Übertretungen dieser Regeln sofort an die jeweiligen Behörden zu melden. Aber um sicher zu stellen, dass sich wirklich niemand regelwidrig fortbewegt, ließ man auch alle Ampeln auf Rot stellen.

Vollstes Verständnis

Nachdem in zwei Tagen 30 Coronafälle in Hangzhou gemeldet worden waren, gingen mehrere Wohnbezirke in Hangzhou am 28. Januar in den Lockdown und die dortigen Bewohner, über 9.000 an der Zahl, wurden in Quarantänehotels transportiert. Am 27. Januar informierten die Behörden die Bewohner um 17 Uhr, dass sie nun alle mit Bussen in jene Hotels gefahren werden sollten, und dieses administrative Verfahren sollte nicht weniger als zehn Stunden dauern, begleitet von ständigen Lautsprecherermahnungen. Um 20 Uhr wurden alle Wohnungen in den zwei Wohnanlagen kontrolliert, aber erst um 23 Uhr oder teilweise erst um 1 Uhr Nachts, nachdem die Familien nun schon fünf bis sieben Stunden in strömendem Regen standen, sind die Busse losgefahren. Bis circa halb drei Uhr nachts wurden durchgehend Coronatests durchgeführt. In den Bussen war die Situation nicht besser: alle waren nass und froren, manche erbrachen sich, die Angst vor Ansteckung war weit verbreitet und es war verboten auf die Toilette zu gehen. Damit nicht genug, viele Hotels wollten die Menschen nicht aufnehmen und manche Busse fuhren bis zu drei Stunden, bis sie ein aufnahmewilliges Hotel erreichten. Im Fernsehen wurden heldenhafte Bilder dieser Buskolonne gezeigt und mit heroischer Musik unterlegt. Zwei Tage danach wandte sich die Stadtregierung in einer Ansprach an die Bürger*innen, in der sie anmerkte „Aber die Stadtfreunde[1]Im Chinesischen wird der Begriff „Freund“ pengyou 朋友 oder you 友 etwas inflationär verwendet. Zum Beispiel werden gewöhnliche Internetnutzer*innen „Internetfreund“ genannt oder … Continue reading haben dies vollends verstanden und sich daran gehalten, dafür sind wir dankbar!“

Gefährliche Hamster

Am 19. Januar gab die Regierung von Hongkong bekannt, dass sie den Coviderreger in Hamstern aus dem „Little Boss“ Kleintierhandlung gefunden hätten. Dass einzelne Hamster nicht genug Viruslast ausatmen, um für Menschen infektiös zu sein, hielt die Administration nicht davon ab, die Kleintierhandlung zu schließen und Hamster aus diesem und anderen Läden, die nach dem 22. Dezember 2021 gekauft worden waren, keulen zu lassen. Mehr als 2.000 Hamster fielen dieser Präventionsmaßnahme zum Opfer, eine Telefonhotline für die Meldung mit Covid erkrankter Hamster wurde eingerichtet und Import und Verkauf von Hamstern und anderen Kleintieren wurde verboten. 

Eine Nacht in wenig bis mäßigem Schnee

Am 22. Januar kehrte eine Schülerin, ausgestattet mit negativen Tests und einem von ihrer Schule ausgestellten Passierschein nach Hause in Xuchang zurück. Aber sie wurde kurz nach 18 Uhr von einem Coronakontrollpunkt aufgehalten, mit der Begründung, dass dieser Hochrisikobereich niemanden hereinlasse. Ihre Mutter kam zu dem Kontrollpunkt, schlug vor, dass die ganze Familie in Quarantäne gehe, aber die Kontrolleure lehnten dies ab. Auch die Versuche der Mutter, ihre Tochter bei Verwandten oder Freunden unterzubringen, scheiterte an anderen Kontrollpunkten. Schließlich versuchte die Mutter dies durch einen Anruf bei der Polizei zu klären, vergebens. Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als die Nacht gemeinsam draußen zu verbringen. Die Wettervorhersage für Xuchang besagte für die Nacht: „Heute Nacht bis morgen früh ist es bewölkt und es fällt wenig bis mäßig Schnee. Es weht ein Nordwind in der Stärke 4 [von 13] und die Temperatur beträgt -2-1°C.“ 

Fußnoten

Fußnoten
1 Im Chinesischen wird der Begriff „Freund“ pengyou 朋友 oder you 友 etwas inflationär verwendet. Zum Beispiel werden gewöhnliche Internetnutzer*innen „Internetfreund“ genannt oder internationale Gäste „internationale Freunde“. Hier ist es auch so: Die Stadt Hangzhou bezeichnet ihre Bewohner*innen als Freunde. Die im Deutschen vom Wort „Freund“ implizierte Nähe ist hier wohl eher Rhetorik oder Wunsch.

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