1. Einleitung

Eines ist bekannt: Xi Jinping hat China schon lange nicht mehr verlassen, aber er telefoniert viel. Auch während des Ukraine-Kriegs tat er das. Nach der Pressemitteilung sagte er im Telefonat am 25. Februar zu Vladimir Putin: „Die chinesische Seite nimmt ihren Standpunkt zum Ukraine-Problem gemäß der Sachlage ein. … Die chinesische Seite unterstützt die russische Seite die Probleme durch Gespräche mit der ukrainischen Seite zu lösen. Die Position der chinesischen Seite ist konsistent damit, die Souveränität jedes Staates und deren territoriale Integrität sowie die Ziele und Prinzipien der Charter der UN zu wahren [d.h. nur die ersten zwei von 111 Paragraphen].“ Ein paar Tage später, am 1. März, telefonierte Außenminister Wang Yi mit dem Außenminister der Ukraine Dmytro Kuleba. In der Pressemitteilung heißt es: „Wang Yi betonte, dass die chinesische Seite von Anfang an der Überzeugung war, die Sicherheit eines Landes könne nicht auf Kosten der Sicherheit eines Landes gehen und die regionale Sicherheit könne nicht durch die Erweiterung von militärischen Bündnissen erreicht werden.“ Eine Woche später betonte Wang Yi auf einer Pressekonferenz: „Eine meterdicke Eisdecke gefriert nicht über Nacht. Die Entwicklung der Situation in der Ukraine bis heute hat viele komplexe Ursachen. Um komplexe Probleme zu lösen, braucht es kühle Gelassenheit und Vernunft, aber nicht Öl ins Feuer zu gießen und die Widersprüche zu verschärfen.“ Schließlich telefonierte Xi Jinping am 8. März mit Emanuel Macron und Olaf Scholz. Xi betonte: „Die chinesische Seite ist der Meinung, dass die Souveränität und die territoriale Integrität, die Ziele und Prinzipien der Charter der UN und die angemessenen Sicherheitsansprüche jedes Staates respektiert werden müssen. Jegliche Anstrengung, eine friedliche Lösung [für den Krieg in der Ukraine] zu finden, muss unterstützt werden.“

Diese zugegebenermaßen recht verklausulierten und oft sehr unspezifischen Verlautbarungen von der chinesischen Seite lassen zunächst darauf schließen, dass seit dem Beginn des Krieges eine Sprachregelung gefunden wurde, während dies kurz zuvor noch nicht so war. Denn auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar schloss Wang Yi die Ukraine ausdrücklich ein, als er davon sprach, dass die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder unverletzlich sei.

Nun ist dies anders: Zum Beispiel schweigt China beharrlich über die Verantwortung Russlands und ganz im Allgemeinen dazu, was der russische Staat gerade verantwortet. Aber die Kritik an der NATO, den USA und Europa bringen Wang Yi und Xi Jinping stets zur Sprache, wenn auch manchmal verschleiert. Zum Beispiel erkennen sie die russische Sicht der Sicherheitslage in Europa an, indem sie der Nato die Schuld an dem Russland-Ukraine-Konflikt geben. Auch bedeutet, dass „kein Öl ins Feuer gegossen“ werden soll, dass es keinen Sinn macht, wenn die USA und die EU Sanktionen gegen Russland erheben. In diesem Zusammenhang warnt die chinesische Seite auch davor, nicht in ein Kalte-Kriegs-Denken zu verfallen. Damit ist gemeint, dass die USA und die NATO nichts unternehmen sollten, was Russland antagonisieren könnte. Und schließlich nennen Xi Jinping und Wang Yi nicht die tatsächlichen Paragraphen der UN Charta und beziehen sich stattdessen auf deren allgemeine Prinzipien. Obwohl die Rhetorik der chinesischen Außenpolitik manchmal harmlos, unkonkret und oft sehr schwammig wirkt, steht die VR China doch recht klar an der Seite Russlands.

Für China steht mit seiner Entscheidung, Russland beharrlich zu unterstützen, allerdings viel auf dem Spiel: Teile der Neuen Seidenstraße sind unterbrochen. Die EU ist zusehends enttäuscht von der VR und wird sich in Zukunft genau überlegen, ob und inwieweit es sich von nicht-demokratischen Regimen abhängig macht. Die EU und die USA sind sich so einig wie schon lange nicht mehr. Einige südostasiatische Staaten sehen Chinas Akzeptanz von Russlands Expansion zusehends mit Sorge, denn Chinas außenpolitisches Mantra, dass territoriale Integrität und staatliche Souveränität unter allen Umständen zu wahren sei, wird immer unglaubwürdiger. 

Warum also hat es sich so entschieden? Ich glaube, dass dieser Entscheidung weder ökonomische noch pragmatische Überlegungen zugrunde liegen, sondern dass sie hauptsächlich durch von Ideologie und Angst geprägte Analysen des politischen Weltgeschehens und ebensolchen Erwartungen, was die Zukunft bringen wird, bestimmt ist. Letztlich ist es ein ideologischer Griff nach Macht. Es geht um die eigene Weltanschauung und die darauf basierende Weltgestaltung. Was dies für die Welt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bedeutet, ist schwer zu sagen, aber ich befürchte, dass diese Ideologisierung des außenpolitischen Diskurses in China die Zusammenarbeit und die Wahrung des Friedens eher erschweren als vereinfachen wird, vor allem wenn man berücksichtigt, wie tief diese ideologischen Wurzel reichen.

Es sind im Wesentlichen sechs Gründe, die Chinas Eliten zu so einer Position gebracht haben. Erstens ist Chinas politische Elite von einer zutiefst anti-amerikanischen (aber nicht anti-europäischen) Haltung geprägt, die sich durch alle Bereiche Chinas Politik zieht. Zweitens hat sich in der VR China und vor allem in deren politischer Elite eine bestimmte Interpretation der Weltgeschichte fest etabliert. Es stehe eine „große Umwälzung bevor, wie es sie hundert Jahre lang nicht gegeben habe“ 百年未有之大变局 und der „Osten sei im Aufstieg und der Westen im Fall“ 东升西降 begriffen. Jetzt sei also eine „gute Situation“, um das geopolitische Gleichgewicht zu ändern. Drittens ist die Annäherung an Russland schon von Beginn an das Resultat der Suche nach einem mächtigen Partner gewesen, sich angesichts von wachsenden Spannungen zu Taiwan (und damit auch zu den USA) Rückhalt zu sichern, nämlich seit 1996. Viertens stellt sich China gegen jede Form von demokratischen Protesten im Ausland, sei es die des Euromaidans 2013-14 oder 2022 in Kasachstan. China befürchtet wohl nicht ganz zu Unrecht, dass eine Demokratisierung dieser Länder eine Verschlechterung der Beziehungen zu China zu Folge hätte. Hinter solchen Protesten sieht China niemals die Unzufriedenheit der Protestierenden, sondern, vor allem in jüngerer Zeit, stets die verborgene Hand der USA. Fünftens erstreckt sich die Befürchtung vor solchen Protesten auch auf den eigenen Herrschaftsbereich, zum Beispiel den Protesten in Hong Kong, wohinter Beijing stets Einmischung aus dem Ausland sah. Sechstens, und wohl am wichtigsten, die Annäherung von China an Russland ist schon von Beginn an mit dem Versprechen verbunden, die globale Ordnung zu ändern. 

2. China richtet sich neu aus

Diese ideologische Positionierung hat eine lange Geschichte, die bis in die Jahre 1996 und 1997 zurückreicht. Sie begann mit der dritten Krise in der Straße von Taiwan (1995-1996), die von Raketentests der VR China ausgelöst wurde. Sie reagierte auf Lee Teng-hui, der Taiwan von der Ein-China-Politik wegsteuerte. Die USA reagierten mit einer großen Schau militärischer Stärke in der Region und ließen einige Kriegsschiffe durch die Straße von Taiwan fahren. Die VR China näherte sich im Gegenzug an Russland unter Yeltsin an. Dies führte unter anderem zur Gründung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Mitglieder waren damals Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und die VR China, während Japan und die USA sich einigten, ihre Allianz zu stärken. 

Um die Positionierung der VR China im heutigen Ukraine-Krieg besser zu verstehen, ist aber die gemeinsame Erklärung der VR China und Russland zu einer multipolaren Welt aus dem Jahr 1997 entscheidend. In dessen ersten Satz heißt es: „China und Russland haben aktive Maßnahmen ergriffen, um eine multipolare, neue und perfektere internationale Ordnung zu errichten, und dies wurde von der internationalen Gemeinschaft in weiten Teilen willkommen geheißen. Dies übt einen gesunden Einfluss auf die internationale Lage am Jahrtausendwechsel aus. … Die sino-russischen Beziehungen richten sich nicht gegen einen dritten Staat. China und Russland haben keine hegemonialen Ansprüche und nicht die Absicht zu expandieren.“ Es standen also nicht nur Spannungen zu Taiwan und Druck der USA am Anfang der sino-russischen Annäherung, sondern diese beiden Faktoren verbanden sich mit dem Wunsch nach einer anderen internationalen Ordnung, damals multipolar 多极 heute multilateral 多边 genannt. „Multilateral“ steht in diesem Diskurs, ganz im Unterschied dazu, wie wir das Wort verwenden, zu der angeblich vom „Westen“ oder von den USA dominierten Weltordnung.

3. Da kann man nichts machen, es ist „historische Notwendigkeit“

Der zweite entscheidende Schritt fiel mit dem Machtantritt Xi Jinpings zusammen. 2008, im Zusammenhang mit dem Georgien-Krieg, machte die VR China ihren Einfluss in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gelten und verhinderte, dass diese die Regionen Südossetien und Abchasien als unabhängig anerkennt. Damals überwog das Kalkül, jegliche hegemoniale Ausdehnung Russlands in Zentralasien zu verhindern und die außenpolitische Maxime der VR China aufrechtzuerhalten, dass staatliche Souveränität in keinster Weise verletzt werden dürfe. Unter der Führung von Xi Jinping nahm die VR China aber eine immer stärkere U.S.-feindliche Haltung ein und verfolgte immer bestimmter eine „Wolfskrieger Diplomatie“.

Dies zeigte sich zunächst in der Reaktion der VR China auf die Euromaidan Proteste und die nachfolgende Invasion Russlands und dessen Besetzung der Krim. Eingangs eilte Wiktor Janukowytsch wegen des Drucks der Euromaidan Proteste am 3. Dezember 2013 nach Beijing. Er sicherte sich Kredite im Wert von 9 Mrd $ und zahlreiche Kooperationsvereinbarungen. Die VR China fürchtete Unruhen und betonte die Wichtigkeit von Stabilität, die vor allem für die Projekte der Neuen Seidenstraße von zentraler Bedeutung waren. 

Dabei ließen die ukrainische und chinesische Seite allerdings eine gemeinsame Vereinbarung verlauten, deren Versprechen die VR China schon wenige Monate danach nicht mehr einzulösen gewillt war. Unter Janukowytsch hielten China und die Ukraine fest: „Beide Seiten betonen, dass gegenseitige Unterstützung in Fragen der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität einen wichtigen Bestandteil der Partnerschaft dieser zwei Länder bildet.“ Ein weiteres Versprechen hatte man in der VR China über den Zeitraum von 8 Jahren dann auch vergessen: „Die chinesische Seite schätzt es in hohem Maße wert, dass die ukrainische Seite seine Atomwaffen unilateral aufgegeben hat. Als Staat ohne Atomwaffen unterzeichnete sie den Atomwaffensperrvertrag vom 1. Juli 1968. Gemäß der Resolution Nr. 984 des UN Sicherheitsrates und der Erklärung der chinesischen Regierung vom 4. Dezember 1994 zu den Sicherheitsgarantien für die Ukraine verspricht die chinesische Seite, dass sie Atomwaffen gegen die Ukraine als Staat ohne Atomwaffen weder einsetzen noch deren Einsatz androhen wird. Außerdem spricht sie Sicherheitsgarantien für die Ukraine aus, falls Atomwaffen gegen die Ukraine eingesetzt werden oder deren Einsatz angedroht wird.“

Die russische Aggression gegen die Ukraine aus dem Jahr 2014, unmittelbar nach den Olympischen Winterspielen in Sochi, beantwortete die chinesische Seite, meist verkörpert durch den Sprecher des Außenministeriums Qin Gang, hauptsächlich mit Forderungen nach Friedensverhandlungen, der Mahnung, dass keine Kalte-Kriegs-Mentalität aufkommen solle, und der Ablehnung von Sanktionen. Die chinesische Seite verbarg sich oft hinter Vagheiten, aber sprach sich doch recht deutlich dafür aus, einen Zustand vor der Absetzung Janukowytschs wiederherzustellen. Es gäbe schließlich „Gründe“ für diese Krise. Obwohl China zwar staatliche Souveränität und territoriale Integrität über alles stelle, wolle es sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine nicht einmischen. Damit sind die Annexion der Krim und die Regionen Luhansk und Donezk gemeint. Außerdem rief sie die Ukraine dazu auf, die Rechte der Minderheiten in der Ukraine zu wahren, die Waffen niederzulegen und zum Verhandlungstisch zurückzukommen. Die von der Regierung kontrollierte Presse, hier die Renmin ribao, hatte klare Vorstellungen, wer an der Krise Schuld sei. Es war der Westen, der nur an Profit interessiert sei, der fürchte, dass sich die Ukraine nach Osten wenden würde und der Angst um seine hegemoniale Stellung habe, und der letztlich auch hinter den Euromaidan Protesten stecke. Über Russland schwieg man sich allerdings aus. Schließlich sprach Xi Jinping, in einem leicht ermahnenden Ton, Putin die Zuversicht aus, dass Xi auf Russlands Fähigkeit vertraue, Stabilität und Ordnung in der Region wiederherzustellen. Er äußerte in diesem Telefonat vom 4. März 2014 unter anderem den recht kryptischen Satz: „In der Entwicklung der Situation in der Ukraine bis heute steckt Notwendigkeit im Zufälligen“, – genauso ist die Vereinigung von Taiwan und dem Festland nach Xi Jinping notwendig.

Neben der fast ominösen Ähnlichkeit zwischen der Invasion von 2014 und der von 2022 sind die Grundlinien der chinesischen Haltung zur Ukraine und den Ansprüchen Russlands hier schon zu sehen. Der Krieg von 2022 enthüllt sie nur deutlicher. Die heutige Haltung der VR Chinas zur russischen Invasion drückt also eine langjährige strategische Entscheidung aus, die russischen Expansionsansprüche im Gegenzug für eine geostrategische Partnerschaft zu tolerieren. In dem Betonen der historischen Notwendigkeit deutet Xi wiederum die am Beginn der sino-russischen Beziehung stehende Taiwan-Frage an, und es wird erneut deutlich, dass das Versprechen auf eine Vereinigung mit Taiwan die Hauptmotivation für die Allianz mit Russland ist.

4. China erwartet einen Regenbogen

Obwohl sich Xi Jinping und Putin in der Zwischenzeit mehrfach getroffen haben, es waren insgesamt fast 40 Treffen seit 2012, bilden eine Videokonferenz im Dezember 2021 und der daran anschließende diplomatische Austausch zwischen Russland und der VR China den unmittelbaren Hintergrund für die jetzige Haltung der VR. Im unmittelbaren Vorfeld der Videokonferenz zwischen Xi Jinping und Putin brachte das chinesische Außenministerium die Phrase „Rücken an Rücken“ ins Spiel, um die Beziehungen zwischen Russland und der VR China zu beschreiben. 

Die Hintergründe für dieses Näherrücken sind komplex, aber drei Faktoren scheinen bestimmend zu sein. Erstens hat sich in der VR China die Auffassung verbreitet, dass China in einem unaufhaltsamen Aufstieg begriffen sei und dass sie die USA bald überholen würden. China sei von „der Geschichte“ dazu bestimmt die neue Weltmacht zu werden. Vor allem durch die Corona-Pandemie kam die Führungsriege der VR zu dem Schluss, dass eine „große Umwälzung bevor stehe, wie es sie hundert Jahre lang nicht gegeben habe“, und dass der „Osten im Aufstieg und der Westen im Fall“ begriffen sei. Zweitens haben die USA unter Joe Biden damit begonnen die südostasiatischen Länder in Bündnissen zu vereinen, von dem sich China eingekesselt fühlt, ähnlich wie Russland von der NATO. Die Beziehungen zu einigen südostasiatischen Staaten haben sich deutlich verschlechtert, vor allem zu Indien und zu den Philippinen, und den Umfragen des Yusof Ishak Instituts zufolge erntet China seit einigen Jahren wenige Sympathiepunkte bei seinen südostasiatischen Nachbarn. Die VR fühlt sich in die Ecke gedrängt. Schließlich fühlt sich die VR China von innen bedrängt, von einer „fünften Kolonne.“ Vor allem die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Menschenrechtslage in Xinjiang, zum Beispiel durch den Uyghur Force Labor Prevention Act, und die Demokratiebewegung in Hong Kong lassen in Beijing die Alarmglocken läuten. Am meisten fürchtet die KPCh schließlich Unruhen im Inland. Besonders die Proteste in Kasachstan im Januar 2022 brachte Beijing ausdrücklich mit ausländischem Einfluss in Verbindung, der die sino-kasachische Freundschaft unterminieren wolle. Außenminister Wang Yi versprach, dass „auf den Regen ein Regenbogen folge.“

Äußerungen, die im Rahmen der Gespräche zwischen Vladimir Putin und Xi Jinping am 15. Dezember 2021 fielen, veranschaulichen dies. „Gegenwärtig bewegt sich die Welt unter dem Einfluss von Umwälzung, wie es sie hundert Jahre lang nicht gegeben hat, und wegen der Pandemie in eine turbulente Revolutionsperiode.“ „Die zwei Staaten [Russland und China] übernehmen die Verantwortung von Großstaaten [大国], vereinen die internationale Gemeinschaft im Kampf gegen die Pandemie, legen die richtigen Implikationen von Demokratie und Menschenrechten dar und werden zu den aufrichtigen Hütern, die den wahren Multilateralismus umsetzen und die internationale Gerechtigkeit beschützen.“ „Gegenwärtig halten manche Mächte das Schild der ‚Demokratie‘ oder der ‚Menschenrechte‘ hoch und mischen sich in die Innenpolitik von China und Russland ein.“ „[Wir] lehnen das Schauspiel, Hegemonie im Mantel von ‚Multilateralismus‘ und von ‚Regeln‘ zu präsentieren, und das Kalte-Kriegs-Denken bestimmt ab.“ „China und Russland arbeiten in allen Bereichen pragmatisch zusammen und zeigen, dass sie politisch und in diesem [historischen] Moment im Vorteil sind.“ Und so weiter. 

Die von Xi Jinping und Vladimir Putin anlässlich der Winterolympiade verlautbarte Erklärung unterstreicht die Aussagen vom Dezember 2021 nochmals und macht sie in einigen Punkten sehr deutlich. Letztlich ließt sich diese gemeinsame Erklärung wie eine sehr lange Liste von Anklagen verbunden mit Vorstellungen davon, wie eine „bessere“ Zukunft aussehen könnte. Da viele dieser Punkte oben bereits besprochen wurden und schon seit längerer Zeit Gegenstand des sino-russischen Austausches waren, seien sie hier einfach nur aufgelistet. Erstens steht eine neue Zeit bevor, eine Zeit der multipolaren 多极 Großmachtdiplomatie 大国外交 oder des echten Multilaterlismus 真正的多边主义. Darin sind zweitens die legitimen Sicherheitsbedenken aller Staaten zu berücksichtigen, gemeint sind eigentlich nur China und Russland und nicht beispielsweise die Ukraine, die Philippinen oder Vietnam. Militärische Bündnisse, hier sind die NATO und AUKUS ausdrücklich genannt, werden zurückgedrängt. Russland und China sprechen sich drittens für eine Kontrolle U.S.-amerikanischer Biowaffen aus, ein deutlicher Verweis auf die Verschwörungserzählung, dass Corona aus Fort Detrick entwichen sei, während man sich gegen die „Politisierung“ der Kontrollkommission für den Einsatz chemischer Waffen wendet – ein klares Anliegen Russlands. Viertens werfen sie „dem Westen“ vor, nur zum Schein demokratische Werte hochzuhalten. Sein eigentliches Ziel sei es, die Souveränität von Russland und der VR China zu unterwandern. Angeblich seien die „Farbenrevolutionen“ auch ein Komplott „äußerer Mächte“ gewesen, gemeint sind hier wohl die USA und Europa. In ähnlicher Weise würde „der Westen“ internationale Organisationen kontrollieren. Schließlich rufen Russland und die VR China, was insbesondere im Kontext des Ukraine-Krieges wichtig erscheint, zu einem Kampf gegen den Faschismus auf und holen so ein wirklich weit unten in der Mottenkiste liegendes Stück kommunistischer Ideologie hervor. 

Als Chinabeobachter*in ist man einiges gewohnt, wenn es um Tatsachenverdrehungen geht, aber dieser Text erreicht ein neues Tief. Mir machen zwei Punkte besonders Sorgen. Erstens spricht aus diesem Text ein ideologisch begründeter „Griff nach der Weltmacht“ oder vielleicht besser „Regionalmacht“, der von einer tiefsitzenden Paranoia durchzogen ist, Opfer verborgener und bösartiger Machenschaften zu sein. Zweitens, und vielleicht noch beunruhigender, lässt dieser Text in keiner Weise erkennen, dass kleineren Staaten, das heißt allen Staaten außer China, Russland und den USA, auch nur ein Fünkchen eigene agency zugesprochen wird. 

5. Rote Zahlen auf dem Prestigekonto

Seitdem Putin am 22. Februar Donezk und Luhansk als unabhängige Republiken anerkannt und Russland am 24. Februar die Invasion in die Ukraine begonnen hatte, stand dieser Krieg beständig auf der Agenda des chinesischen Außenministeriums und auch von Xi Jinping. Am 22. Februar telefonierten Außenminister Blinken und Wang Yi, und Wang Yi unterstrich, dass Russland berechtigte Sicherheitsinteressen habe: Zwei Tage später telefonierte Lavrov mit Wang Yi und Wang Yi betonte, dass er die Anliegen Russland gut verstehe, dass Russland den berechtigten Anspruch auf die Vollständigkeit seines Territoriums habe und dass er das Kalte-Kriegs-Denken ablehne. Mit letzterem meint Wang Yi die Ankündigungen von Sanktionen gegen Russland. Das Telefonat von Xi Jinping und Putin einen Tag später unterscheidet sich kaum von dem zwischen Lavrov und Wang Yi. Es folgen weitere Telefonate und auf jeder Pressekonferenz in dieser Zeit kommt der Krieg zur Sprache, obwohl das Hauptaugenmerk der chinesischen Führung sicherlich auf dem anstehenden Großen Volkskongress liegt. 

In jedem Fall ändert sich die Position der VR China kaum und immer dann, wenn Beobachter*innen eine kleine Änderung vermeintlich erahnen, werden sie kurz darauf eines Besseren belehrt. Zum Beispiel stimmte der Sprecher des Außenministeriums Zhao Lijian der unter anderem von QAnon unterstützten Verschwörungserzählung am 8. März zu, die USA würden biochemische Waffen in der Ukraine herstellen. Tatsächlich handelt es sich um Kooperationen zwischen der USA und der Ukraine zu Laborsicherheit, zur Kontrolle von Krankheiten und zur Pandemiebekämpfung, was Zhao Lijian nicht daran gehindert hat, folgendes zu behaupten: „In letzter Zeit haben die biologischen Labore der USA in der Ukraine wirklich allseitige Aufmerksamkeit erregt. Berichten nach enthalten diese biologischen Labore sehr viele gefährliche Viren. Russland hat bei seinen militärischen Operationen dazu noch entdeckt, dass die USA diese nutzen wollten, um einen Plan zur biologischen Kriegsführung umzusetzen. … Was ist die wirkliche Absicht von den USA? Was machen sie eigentlich? Die internationale Gemeinschaft hatte schon immer Zweifel. Die USA kommen damit gerade so durch und nennen vor der internationalen Gemeinschaft vorgebrachte Zweifel eine Verbreitung von ‚fake news‘. Aber es ist nicht nur das. Seit 20 Jahren verhindert die USA als einziges Land, eine Mechanismus zur Kontrolle der Biowaffenkonvention einzurichten. Sie lehnen Kontrollen ihrer biologischen Einrichtungen im In- und Ausland ab. Sie befördern so die Sorgen der internationalen Gemeinschaft. Wir fordern die U.S.-amerikanische Seite erneut auf, über ihre Aktivitäten im Bereich der biologischen Waffen im In- und Ausland aufzuklären und multilaterale Kontrollen zuzulassen.“ In derselben Pressekonferenz kam Zhao Lijian auf die Rede von Alice Weidel am 27. Februar zu sprechen, in der sie der Nato und den USA die ganze Schuld an Russlands Invasion in die Ukraine gab. Diese Sichtweise sei „sehr vernünftig“, so Zhao.

Außerdem fragt ein Reporter der Agence France-Presse am 9. März, ob der Ausdruck „Kriegsfeuer“ oder besser „flames of war“ 战火, den der Sprecher des Außenministeriums Zhao Lijian am Tag zuvor verwendet hatte – tatsächlich nutzte ihn Wang Yi auch in einem Telefonat mit Blinken am 5. März –, also ob dieser Ausdruck einen Änderung in der Haltung der VR China ausdrücke. Zhao Lijian verneinte dies. In derselben Pressekonferenz sagte Zhao Lijian: „In den letzten Tagen hat die U.S.-amerikanische Regierung im Zusammenhang mit der Ukraine-Frage eine Falschnachricht nach der anderen über China herausgebracht. Sie haben die Absicht, den Konflikt [nach China] zu verschieben, Widerstand [in China] hervorzurufen und diese Gelegenheit zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Das sind hinterhältige Methoden und böse Absichten. Die Entwicklung der Ukraine-Frage bis heute liegt klar vor uns. Wegen der Handlungen der NATO mit den USA an der Spitze wurde der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in einen Vulkankrater gestoßen. Die USA sehen ihre eigene Verantwortung nicht, aber kritisieren China, dass es keine Position zur Ukraine-Frage beziehe. Sie geben der Absicht Raum, ‚China und Russland gleichzeitig zu unterdrücken,‘ um ihre hegemonialen Ziele zu schützen. Um so mehr die U.S.-amerikanische Regierung alles daran setzt, diffamierende Gerüchte in die Welt zu setzen und zu übertreiben, desto mehr gewährt sie der internationalen Gemeinschaft einen Einblick in die roten Zahlen auf ihrem Prestigekonto.“

Beunruhigend an der außenpolitischen Position der VR China ist nicht unbedingt, dass sie ihrer nun bereits fast dreißig Jahre alten geostrategischen Entscheidung treu bleibt, eine Allianz mit Russland zu schmieden, sondern dass sie diese Entscheidung ideologisch unterfüttert und oft mehr als einen Schritt weiter geht, oft in das Territorium der Verschwörungserzählung, als sie eigentlich müsste. Xi Jinping ist ein ideologischer Herrscher und diese Haltung prägt auch die Außenpolitik der KPCh. Letztlich ist die Allianz mit Russland mit dem Versprechen auf Taiwan verbunden und die VR China ist bereit einen sehr hohen Preis für Taiwan zu zahlen. Vor diesem Hintergrund ist es schwer zu sehen, unter welchen Umständen China zugunsten eines Friedens wirklich aktiv werden könnte.

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